ganzheitlich führen:
Das Quadranten-Modell nach Ken Wilber
Das Quadranten-Modell von Ken Wilber ist ein fast universell anwendbarer Ansatz. Wilber stellt die vier verschiedenen Wahrnehmungsrealitäten des Individuums und des Kollektivs einander gegenüber und vergleicht die Perspektiven, die sich daraus ergeben. Der Ansatz von Ken Wilber ist auch als «integrale Theorie» bekannt. Er hat das Modell erstmals in seinem Buch “Sex, Ecology, Spirituality: The Spirit of Evolution” (1995) beschrieben.
Die vier Perspektiven
Die vier Quadranten von Wilber repräsentieren die subjektive Erfahrung (ich), die objektive Realität (es), kulturelle und soziale Dynamiken (wir) und in der äusseren kollektiven Perspektive die Umwelt (sie).
Die vier Quadranten zeigen die integrale Sichtweise auf die Lebensrealitäten. Eine ganzheitliche Betrachtung widerspiegelt unser Verständnis vom Zusammenspiel der Realitäten. Sie stehen in Wechselwirkung zueinander. Dies hat zur Folge, dass beispielsweise Veränderungen wie ein Führungscoaching oder eine Systemumstellung nicht isoliert in einer Lebensrealität initiiert und umgesetzt werden können. Bei einem Führungscoaching muss auch die Unternehmenskultur bzw. die Struktur der Organisation berücksichtigt werden und bei einer Systemumstellung des Betriebssystems müssen auch die Erfahrungsräume der Mitarbeitenden, ihre Motivation und ihre Lernmöglichkeiten in Bezug auf das System betrachtet werden.
Dieses Modell hilft dabei, die Komplexität menschlicher Erfahrungen und Systeme ganzheitlich zu verstehen und zu analysieren.
Innere individuelle Perspektive – ich:
Subjektive, persönliche Erfahrungen und Bewusstseinszustände. Beispiel: Gedanken und Gefühle, persönliche Werte und Glaubenssätze, Überzeugungen oder Motivation. Antworten auf die Frage: Wie fühle ich mich?
Mich selbst kennen
Äussere individuelle Perspektive – es:
Objektive, beobachtbare Verhaltensweisen und biologische Aspekte. Sichtbare Prozesse oder Äusserungen des Individuums wie Verhalten, körperliche Merkmale. Antworten auf die Frage: Wie verhalte ich mich?
Tools und Praktiken
Innere kollektive Perspektive – wir:
Gemeinsame kulturelle und soziale Werte und Überzeugungen. Ethik, Wertgebung und Kultur. Antworten auf die Frage: Was sind unsere Ziele oder gemeinsamen kulturellen Werte?
Arbeitsatmosphäre und Teamkultur
Äussere kollektive Perspektive – sie:
Gesellschaftliche Strukturen, Systeme und Umweltfaktoren. Objektive Aspekte von Gruppen, Organisationen wie soziale Strukturen oder Systeme. Antworten auf die Frage: Welche Umweltbedingungen wirken auf uns?
Unsere Experten
Was bringt die integrale Sichtweise?
Die integrale Sichtweise mit den vier Quadranten nach Ken Wilber ermöglicht eine ganzheitliche Betrachtung komplexer Phänomene. Durch die Berücksichtigung der vier wesentlichen Dimensionen – individuelles Inneres und Äusseres sowie kollektives Inneres und Äusseres – werden alle relevanten Aspekte eines Themas oder Problems integriert.
Diese ganzheitliche Betrachtungsweise fördert ein tiefes Verständnis und unterstützt nachhaltige Lösungsansätze, bei denen kein Bedürfnis unterdrückt oder vernachlässigt wird. Sie trägt dazu bei, komplexe Zusammenhänge besser zu entschlüsseln und ermöglicht umfassendere Einsichten, die für die Bewältigung sozialer, psychologischer, organisatorischer und kultureller Herausforderungen entscheidend sind.
Was ist der Zusammenhang zwischen Agilität und dem Quadranten-Modell der vier Perspektiven?
Die Einführung agiler Methoden funktioniert nur, wenn sie ganzheitlich angegangen wird. Es reicht nicht aus, nur die Prozesse zu verändern. Vielmehr gilt es, die Veränderung unter Berücksichtigung aller vier Perspektiven zu initiieren und die neue Methode in der Kultur zu verankern, so dass sie zur Routine wird.
Eine echte Transformation bedingt eine Veränderung der Kultur, der Einstellung und des Verhaltens. Dies braucht Zeit. Agile Methoden können daher nicht in einer einmaligen Aktion übergestülpt werden. Das bedingt auch die Einbeziehung der inneren individuellen und kollektiven Perspektive in den Veränderungsprozess.
Häufig lässt sich ein Fokus auf das System beobachten, während der Mensch und seine Fertigkeiten im Hintergrund bleiben. Organisationsentwicklung bedingt immer auch eine Persönlichkeitsentwicklung. Die beteiligten Personen müssen in ihren Fähigkeiten begleitet werden und die benötigten neuen Fertigkeiten erlernen. Ebenso ist es wichtig, dass eine Kultur kreiert wird, die produktive Teams hervorbringt.
“Es gibt hervorragend funktionierende und liefernde Teams mit ungünstigen Praktiken und schlecht implementierten Tools. Nur das Gegenteil habe ich noch nie gesehen!”
Philipp Engstler
Beispiel: Delegation ganzheitlich gedacht
Will eine Organisation Delegation gezielt stärken, kann sie mit einem strukturellen Impuls starten – etwa durch die Einführung von Delegation Poker (Quadrant unten rechts). Das neue Format verändert die Erwartungen: Führungskräfte und Teams müssen sich anders verhalten, etwa klar kommunizieren und Verantwortung aktiv übernehmen (Quadrant oben rechts). Wenn das gelingt, wandelt sich über die Zeit auch das gemeinsame Selbstverständnis – eine neue Kultur des Vertrauens und der Klarheit entsteht (Quadrant unten links). Parallel lohnt sich die persönliche Auseinandersetzung: Welche Überzeugungen, Unsicherheiten oder Lernfelder prägen mein Verständnis von Führung und Verantwortung? (Quadrant oben links). So wirkt Delegation über alle Ebenen hinweg – nachhaltig und verbindlich.
Was sind klassische Symptome, die darauf hindeuten, dass eine Veränderung nicht ganzheitlich angegangen wurde?
Zu Beginn wird Agilität oft in einem kleinen Teil des Unternehmens eingeführt, ohne Abstimmung mit dem grossen Ganzen. Dies kann auf Initiative eines einzelnen Teams geschehen oder weil der bisherige Prozess nicht mehr passt. Manchmal gibt auch das Management Agilität “in Auftrag”, ohne sich näher mit dem Thema und den damit verbundenen Anforderungen auseinandergesetzt zu haben. Die Geschäftsleitung hat vielleicht vom agilen Trend gehört oder folgt damit den Erfolgsrezepten externer Berater, die lukrative Abkürzungen versprechen.
Sichtbar und als Anhaltspunkte und Warnsignale nutzbar sind die Symptome solch unvollständiger Transtitionen. Ihre Ursachen sind vielfältig und lassen sich nicht immer eindeutig bestimmen.
Wir beobachten in unserer Tätigkeit als Coaches die verschiedensten Symptome und Kinderkrankheiten, deren Ursache jeweils stark vom jeweiligen Kontext abhängig ist. Nichtsdestotrotz sehen wir immer wieder ähnliche Muster, die sich auch mit den meistgenannten Schwierigkeiten in der jährlichen Umfragen unter Agilisten für den “State of Agile Report” decken. Untenstehend beschreiben wir typische Muster und Kinderkrankheiten, die auftreten, wenn Agilität nur unvollständig eingeführt wird.
Widerstand gegen Veränderungen und fehlender Kulturwandel
Mitarbeitende und Führungskräfte halten an alten Arbeitsweisen fest. Alte Strukturen und Elemente haben sich gehalten: Die Stellenbezeichnungen und Hierarchiestufen spiegeln noch die alte Welt wider.
Eine nur halbherzige Umsetzung
Ein Muster, das wir häufig beobachten ist, dass nur Teile der agilen Methoden übernommen werden, was zu Ineffizienz führt. Die Scrum Teams arbeiten agil, führen ihre Scrum Events durch und präsentieren ihre Increments bei den Reviews, liefern parallel aber für die Geschäftsleitung jede Woche einen Status Report und orientieren sich für die Planung des Sprint Backlogs an der jährlichen Roadmap.
Die Art und Weise, wie die Agilität in solchen Organisationen gelebt wird, lässt vermuten, dass die agile Arbeitsweise auf Anweisung von aussen eingeführt wurde. Die Teams haben sie nicht intrinsisch motiviert entdeckt und umgesetzt. Das Management toleriert die halbherzige Umsetzung und akzeptiert die sich daraus resultierende Ineffizienz im Umgang mit beiden Welten (agile Events, klassische Reportings und weiterhin die Meetings aus dem Projektmanagement nach Wasserfall).
Unzureichende Unterstützung durch das Management/Leadership-Team
Es reicht nicht aus, nur auf der untersten Hierarchie-Stufe agil zu arbeiten. Wenn das Management die Agilität nicht versteht, selbst lebt und vorantreibt, treten eine Vielzahl von Symptomen auf. Eine Aufzählung von Wirkungen des mangelnden Supports und Verständnisses im Management:
Frustration im Team: Mikromanagement und mangelnde Delegation frustrieren die Entwickler und führen dazu, dass die Teamkapazitäten nicht effizient genutzt werden können. Erfolge und Fortschritte der agilen Teams werden nicht anerkannt oder belohnt, so dass sich die Teams nicht wertgeschätzt fühlen. Die Entwickler sehen den möglichen Nutzen der Business Agilität, bemerken die fehlende Leadership-Unterstützung und fühlen sich durch den fehlenden Kulturwandel in ihren Bemühungen eingeengt. Als letzter Ausweg bleibt ihnen nur, das Unternehmen zu verlassen. Die Fluktuation steigt.
Fehlende Transparenz: Entscheidungen und strategische Änderungen werden nicht klar und rechtzeitig kommuniziert.
Diskrepanz in der Priorisierung: Ohne einheitliche Prioritäten entstehen Konflikte zwischen kurzfristigen Geschäftsanforderungen und langfristigen Entwicklungszielen.
Mangel an Zeit und Budget: Agile Initiativen erhalten nicht genügend Zeit oder Budget, um erfolgreich zu sein.
Die Business-Seite versteht den Nutzen der Agilität nicht ausreichend, wenn es kein Ownership für das Wachstum der Agilität und das Skalieren des Kundenwerts gibt.
Herausforderungen der Agilität gemäss dem State of Agile Report
Der jährliche State of Agile Report wird von Digital.ai herausgegeben. Der Bericht basiert auf einer Umfrage unter Fachleuten (Scrum Master, Product Owner, Entwickler und Führungskräfte), die in verschiedenen Branchen tätig sind und in ihrer Arbeit agile Methoden anwenden.
Im State of Agile Report 2023 wurden die folgenden fünf Herausforderungen am häufigsten genannt, warum Agilitäts-Transformationen nicht funktionieren:
1) Genereller organisatorischer Widerstand gegen Veränderungen/Kulturkonflikt (47 %)
2) Unzureichende Beteiligung durch Führungskräfte und Leader (41 %)
3) Fehlende Unterstützung durch das Management (38 %)
4) Die Business-Seite versteht nicht, was agile Methoden bewirken und/oder leisten können (37 %)
5) Unzureichende Schulung und/oder Ausbildung (27 %)
Quelle: State of Agile Report (in Englisch)
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