Arbeiten in komplexen & volatilen Umgebungen

Teamerfolg:

Ein Text von Sandro Pfammatter, aus Interviews mit Martina Dudle, VRP der Attesta Schweizer Zertifizierungsgesellschaft AG und Philipp Engstler, Co-Gründer von flowdays, der Boutique Agiler Experten.

Von der Wassermelone zur FuckUp-Night

Erfolgreiche Teams sind zuverlässig und strukturiert. Ihre Arbeit sehen sie als sinnvoll und nutzbringend. Common sense? Nicht ganz. Denn die tragende Basis für all das ist ein Faktor namens „Psychologische Sicherheit“. Und der ist auf dem besten Weg zu einer ISO-Zertifizierung.


„Es gab immer eine Distanz, es gab Angst und Respekt. Wenn er zu Besuch kam oder man zu ihm gehen musste, dann stieg der Puls.“ Die Aussage stammt von einem Volkswagen-Manager, nach dem legendären Dieselskandal. Er spricht von Martin Winterkorn, dem früheren VW-CEO, der das Unternehmen mit eiserner Hand führte.

Allein der Börsencrash von VW vernichtete zig Milliarden Euro in anderthalb Wochen. „In Zukunft brauchen wir ein Betriebsklima, in dem Probleme nicht verheimlicht werden“, resümierte ein Aufsichtsrat-Mitglied kurz nach dem Skandal. Ähnliche Geschichten – der Angst, des Verschleierns, der Verluste – finden sich bei Nokia, Wells Fargo und der US-Notenbank. Das Phänomen vor solchen Crashes ist auch als Wassermelonen-Reporting bekannt: Dem Chef, den Auftraggebern oder anderen Stakeholdern wird gegen aussen dauerhaft ein toller Projektstatus vorgegaukelt. Alles in bester Ordnung, grüne Schale. Doch in Wahrheit, innendrin, ist alles tiefrot.

Szenenwechsel: Mehrere hundert junge Geschäftsleute treffen sich in Zürich Oerlikon zur FuckUp-Night. Auf der Bühne stehen Kollegen, die von ihrem Scheitern erzählen. Sie schildern detailliert und entspannt, wie sie Projekte in den Sand gesetzt und Startups an die Wand gefahren haben. Das Publikum klatscht, hat Fragen, will lernen. Scheitern als unvermeidlicher Stolperstein auf dem Weg zum Erfolg. Radikale Offenheit als Tugend. Scheinbare Schwäche, die anderen zur Stärke wird. FUN ist die Abkürzung für diese Anlässe, die inzwischen in hunderten von Städten und 81 Ländern stattfinden. Doch FUN, Spass, kratzt nur an der Oberfläche. Denn was die FuckUp-Nights wirklich schaffen, ist ein Mikroklima der Psychologischen Sicherheit.

Auftritt Google: Die Aristoteles-Studie und ihr globales Echo
Was ist das Geheimnis guter Teamarbeit? Der 2-Billionen-Dollar-Titan Google versuchte das mit „Projekt Aristotle“ zu ergründen. Google untersuchte dazu 180 unterschiedliche Teams auf der Suche nach Mustern ihres Erfolges. Die untersuchten Gruppen hatten zwischen drei und 50 Mitglieder, durchschnittlich waren es neun. Julia Rozovsky, Teil des People-Analytics-Forscherteams, stellte dabei fest, dass Teameffektivität weniger von den Personen im Team abhing, als vielmehr von der Art und Weise, wie diese zusammenarbeiteten. Die Forscher identifizierten in den herausragenden Teams immer wieder die gleichen Schlüsselthemen – und legten die fünf häufigsten als „Säulen der Effektivität“ fest.

Teamerfolg

…bei google Teams:

1. Psychologische Sicherheit

2. Verlässlichkeit

3. Struktur & Klarheit

4. Meine Arbeit ist mir wichtig

5. Mein Beitrag zur Veränderung

Bildquelle: re:Work, https://rework.withgoogle.com/blog/five-keys-to-a-successful-google-team/

In zuverlässigen Teams erledigten die Mitglieder ihre Arbeit demnach pünktlich, sie drückten sich nicht vor Verantwortung. Strukturierte Teams waren sich im Klaren darüber, welche Erwartungen sie zu erfüllen hatten, wie sie diese erfüllen konnten – und an welchen Zielen das Team arbeitete. Schliesslich fielen auch Teams auf, die eine sehr klare Antwort auf die Sinnfrage ihrer Arbeit hatten, wie auch immer diese lautete – etwa „Selbstverwirklichung“ oder „für meine Familie sorgen“. Zudem zeichneten sich die guten Teams dadurch aus, dass ihre Mitglieder an den eigenen Einfluss/Effekt für die Erreichung der Teamziele glaubten. Doch die untermauernde Säule, Platz 1 in der grossen Aristoteles-Studie, war Psychologische Sicherheit. Der Faktor beschreibt, wie sicher sich die einzelnen Teammitglieder damit fühlen, ein zwischenmenschliches Risiko einzugehen. In einem Team mit hoher psychologischer Sicherheit kann demnach selbstsicher alles geäussert werden, ohne zu befürchten, dass man von seinen KollegInnen dafür verurteilt und ausgegrenzt wird. Man fühlt sich dem Team zugehörig (inclusion safety), lernt angstfrei – inklusive Fehler und Feedbacks (learner safety) – und leistet mutig den eigenen Beitrag (contributor safety). Der letzte Punkt ist ebenso heikel wie hohe Schule: Herrscht nämlich „challenger safety“, haben Mitarbeitende keine Angst, den Status Quo offen zu hinterfragen und zu kritisieren. Sie werden zum „Advocatus Diaboli“, der auch schon mal aufmerksam den Finger in die Wunde hält.

Die 4-Stufen der psychologischen Sicherheit

Nach Timothy R. Clark

Bildquelle: https://www.leaderfactor.com, Timothy R. Clark


Niedrige psychologische Sicherheit ist im Gegensatz zu all diesen Qualitäten das Analog eines Spiessrutenlaufs über glühende Kohlen. Mitarbeitende in solchen – zutiefst unsicheren – Teams tragen jeden Tag in etwa das folgende Mantra über die Schwelle: „Bei Nachfragen und Einsprüchen werden mich die anderen als ignorant, inkompetent oder negativ empfinden. Ich sage also besser nichts. Wenn ich trotzdem gefragt werde, kann ich die Situation ja immer noch beschönigen.“ Unternehmen werden aufgrund solchen Verhaltens die Chancen und Risiken nicht erkennen, um mit dem Markt mitzuhalten – und geraten unweigerlich in Schieflage.

Keine Wohlfühlblase, kein Streichelzoo, kein Schutz vor Entlassung
Eine Studie der Harvard Business School zeigt eindrücklich, was geschieht, wenn Mitarbeitende „toxisch“ werden – also unsicher, wütend, frustriert und resigniert ihren „Dienst nach Vorschrift leisten“. Unter den 60‘000 untersuchten Mitarbeitenden reduzierten 48% Prozent absichtlich ihre Anstrengungen, 47% sogar die mit Arbeit verbrachte Zeit. Jeder Vierte gab zu, den eigenen Frust durchaus auch an Kunden des Unternehmens auszulassen. Ganz gemäss dem Motto „irgendwo muss man ja Dampf ablassen.“ Bedeutet dies, dass CEOs und Teamchefs eine Utopia-Wohlfühlblase schaffen sollten, um psychologisch sichere Teams zu führen? Keineswegs, wie Amy Edmondson ausführt, Autorin des Buches „Die angstfreie Organisation“.

„Psychologische Sicherheit bedeutet nicht, einfach nur nett zu sein. Es geht um Aufrichtigkeit und die Bereitschaft, sich in produktive Konflikte zu begeben, damit man von verschiedenen Sichtweisen lernen kann.“ Auch die Erwartungen und Leistungsstandards würden nicht herabgesetzt, zumal die heutige Geschäftswelt so oder so volatil, unsicher, komplex und mehrdeutig sei. In dieser Welt, unserer Welt, werden Bestleistungen möglich, wenn Menschen bei der Arbeit ständig dazulernen. Doch Lernen und Angst gehen nun einmal sehr schlecht zusammen. Oder mit den Worten des Schriftstellers Edmund Burke: „Kein Gefühl raubt dem Geist in einem solchen Ausmass die Fähigkeit, zu handeln und klar zu denken, wie die Angst.“

Schutz vor Entlassung oder den „Arbeitsplatz auf Lebenszeit“ bietet Psychologische Sicherheit aber nicht. Nichts läge ferner. Sie ist vielmehr ein fruchtbarer Boden, auf dem die diversen Potenziale der Mitarbeitenden sich produktiv statt destruktiv entfalten und Früchte tragen können. „Agil arbeitende Teams nutzen empirische Prozessmodelle mit ein- oder zweiwöchigen Sprints. Darin enthalten sind regelmässige Retrospektiven“, sagt Philipp Engstler, Agile Coach und Registered Scrum Trainer bei flowdays, der Boutique Agiler Experten. Die Teams reflektieren also regelmässig, wie sie effektiver, effizienter und achtsamer werden können und passen ihr Verhalten entsprechend an (inspect&adapt). „Diese kleinen und regelmässigen Fortschritte zeigen im kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) grosse Wirkung“, so Engstler. 

Hier geht’s zu den Angeboten von Flowdays zu Psychologischer Sicherheit

Alte Welt und neue Welt: Wenn der softe Faktor zur ISO-Norm wird
Generationen scheinen im offenen Clinch zu liegen, wenn in Medienberichten von der überzogenen Anspruchshaltung der Millennials die Rede ist. Faul, narzisstisch und arrogant seien sie, die nach 1980 Geborenen. Dabei bauen sie doch auf dem Wohlstand auf, den ihre Grossväter und Väter – die Nachkriegsgeneration und die Baby Boomer – ihnen überlassen haben. „Und jetzt auch noch psychologische Sicherheit fordern. Wo kämen wir denn da hin?“. Dieser Disput ist nicht ganz neu. „Die Jugend liebt heutzutage den Luxus. Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität, hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt, wo sie arbeiten sollte“, schrieb bereits Sokrates. Er lebte 470 bis 399 vor Christi Geburt. Neu ist, dass 2022 niemand mehr von seinen KollegInnen gezwungen wird, einen Becher mit tödlichem Gift zu trinken, wenn er kritisch ist und unliebsame Fragen stellt. Sokrates hingegen starb noch auf diesem Weg. „Challenger safety“ im alten Athen? Leider Fehlanzeige.

Die ISO Norm 45003 ‘Psychologische Sicherheit’ ist die erste globale Norm, die praktische Anleitungen für den Umgang mit psychologischer Sicherheit am Arbeitsplatz gibt“, erklärt Martina Dudle von der Schweizer Zertifizierungsgesellschaft ATTESTA. Der vermeintliche „soft factor“ wird also Teil des Systems, das uns auch ISO 9001 gebracht hat, die national und international am weitesten verbreitete Norm im Qualitätsmanagement (QM).

„Teil einer solchen Zertifizierung der Psychologischen Sicherheit wäre etwa die Bestimmung eines Verantwortlichen, der die Geschäftsleitung (GL) und die Führungskräfte dabei berät und unterstützt, wie sie diesen zentralen Aspekt in ihrem Unternehmen und in ihren Teams vorleben, gestalten und messen können“, sagt Dudle. „Der Zertifizierungszyklus dauert drei Jahre. Am Ende jeden Jahres wird in einem externen Audit der Stand bzw. Reifegrad des eingeführten Managementsystems überprüft“. Viel häufiger, nämlich im Rahmen des KVP, lasse sich psychologische Sicherheit auch unternehmensintern in das Verhalten der Führungskräfte und die Retrospektiven integrieren sowie extern validieren.

Wie hier und heute den Anfang machen? „Etwas Mut und kleine Experimente im eigenen Team – eventuell mit externer Anleitung – ermöglichen das Herantasten an Themen, die sich ausserhalb der Komfortzone befinden“, sagt Philipp Engstler von flowdays. „Wenn auch der Anfang etwas ungewohnt sein mag – ein angenehmerer Umgang im Team und mehr Produktivität sind sicher lohnende Aussichten.“ 

Andere Trainingsorte könnten enge Freunde oder die eigene Familie sein. Orte eben, wo wir ohne Zwang bereit sind, auch mal „Schwäche zu zeigen“ und Fehler zuzugeben. Denn Lernen findet bekanntlich immer dort statt, wo wir unsere Komfortzonen verlassen – und Neuland betreten.

Quellangaben:
- Amy C. Edmondson, Die angstfreie Organisation, 2018
- Edmund Burke, irisch-britischer Schriftsteller und Philosoph
- Timothy R. Clark, LeaderFactor, 4 Stages of Psychological Safety, 2020
- Re:Work
- Julia Rozovsky, Analyst, Google People Operations

 

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